Zum 110. Geburtstag des tatarischen Nationaldichters
26./27. Februar 2016 im Zentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft und im Literaturhaus Magdeburg
Eine Kooperation von Tatarlar Deutschland e.V., der Landesvereinigung für kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. und dem ICATAT Deutschland in Kasan, Berlin und Magdeburg.
Der tatarische Nationaldichter Musa Mostafa ulı Dschalil wurde am 2. Februar 1906 in Mustafino, Gouvernement Orenburg, Russland geboren und 1944 am 25. August in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Als Jugendlicher schrieb er nach seiner Ausbildung in einer der modernsten Koranschulen Rußlands Gedichte für die Zeitschrift „Roter Stern“. Als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der Republik Tatarstan verfasste Dschalil Gedichte, Prosa, Theaterstücke und arbeitete mit an Opern, Zeitschriften und Radiosendungen. 1941 wurde er als Politoffizier in die Rote Armee einberufen. 1942 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde in Wustrau bei Berlin interniert. Dort wurde er der Legion Idel-Ural, einer von zahlreichen muslimischen Einheiten der Wehrmacht zugeteilt. In dieser Legion, in der hauptsächlich Tataren und Baschkiren auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion eingesetzt wurden, war Dschalil als prominenter Intellektueller zuständig für Kulturarbeit, unter anderem für die Theatergruppe und die Redaktionsleitung der tatarischen Wehrmachts-Zeitschrift. Innerhalb dieser offiziellen Wehrmachtsarbeiten gründete Dschalil eine geheime Gruppe, die sich an Sabotageakten gegen die Deutschen beteiligte. Sie legten selbstgedichtete antifaschistische Poeme in die Wehrmachtszeitschriften ein. Als diese Aktivitäten im August 1943 ans Licht kamen, wurde er verhaftet und ins Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin gebracht. Am 12. Februar 1944 wurde er mit zehn anderen Tataren vom 2. Senat des Reichskriegsgerichts in Dresden wegen „Zersetzung der Wehrkraft, Feindbegünstigung und Kriegsverrats“ zum Tode verurteilt und am 25. August desselben Jahres um 12:18 Uhr in Plötzensee hingerichtet.
Präsentieren in Magdeburg ein Jugendworkshop-Ergebnis, das Poster der frischen Schulpartnerschaft zwischen Neuruppin und Moskau: Dr. Stephan Theilig (ICATAT), Tschulpan Salilova, Tochter des Poeten, Dr. Mieste Hotopp-Riecke (ICATAT) und Nasira Fattakhowa, Leiterin des Musa-Dschalil-Museums in Kasan, Tatarstan
Während seiner Gefangenschaft in Berlin schrieb Dschalil weiterhin Gedichte, die unter dem Namen Moabiter Hefte weltbekannt und in 60 Sprachen übersetzt wurden. Etliche Bücher, Filme, Radiosendungen und Theaterstücke befassen sich mit Mythos und Leben Musa Dschalils. In Magdeburg wurden erstmals Neuübersetzungen aus dem Tatarischen ins Deutsche, Französische und Türkische vorgetragen, die die ICATAT-Mitglieder Anne Lequy und Ender Yemeniçioğlu besorgten sowie eine deutsche Uraufführung des preisgekrönten Dokumentarfilms „Musa Dschalil – verurteilt zur Unsterblichkeit“ (mit deutschen Untertiteln von Venera Vagizova und Dr. Mieste Hotopp-Riecke) präsentiert. Im Seminar bearbeiten jugendliche Flüchtlinge und Alteingesessene gemeinsam Themen wir Heimat, Krieg, Frieden, Identität, Nationalismus und Islamophobie.
(*Aus: „Mein Geschenk“ in „Moabiter Hefte“)
Programm
Freitag 26.2.2015
Jugend-Geschichtswerkstatt „Europäische Held*innen“ im Forum Gestaltung Magdeburg / Räume der .lkj) LSA
12.00 Begrüßung / Welcome
12.30 Einführungsreferate & Film „Khaytarma“ (zum Schicksal A. K. Sultans)
14.45 Workshop-Einheiten A
16.00 Kaffee-Pause
16.15 Workshop-Einheiten B
17.30 Resüme / Abschlussdiskussion
Soirée „Fern, in die Heimat, schwingt mein Lied“ im Literaturhaus Magdeburg
19.00 Begrüßung
19.15 Lesung, Klassik, Kurzreferate
20.15 Pause
20.25 Making of. Worte zu Musa Dschalil im deutschen, tatarischen und russischen Film
20.35 Film-Uraufführung „Musa Dschalil – verurteilt zur Unsterblichkeit“ (2015, OmU)
21.00 Filmdiskussion / Ausklang / Büffet
22.30 Schluss
Samstag 27.2.2015
10.00 Stadtführung „Tataren, Muslime, Sorben – Spurensuche in Magdeburg“
12:00 Diskussion zum Islam in Mitteldeutschland gestern und heute
13.00 Schluss
Als Referenten zu Gast waren in Magdeburg:
Tschulpan Salilowa, Tochter des Dichters Musa Dschalil
Rinat Sakirow, Weltkongress der Tataren, Kasan
Lenara Kutejewa, Weltkongress der Tataren, Kasan
Ildar Kharissov, Turkologe/Musikethnologe; Präsident der Gesellschaft für Osteuropaförderung
Nasira Fattachowa, Kasan, Direktorin des Musa-Dschalil-Museums in Kasan
Dr. Marat Gibatdinov, Institut für Geschichte, Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan, Kasan
Nina Praharsh, Regisseurin des Musa-Dschalil-Filmes, Sankt-Petersburg
Danil Schajmullin, Sänger, Kasan & Aygul Hismatullina, Sängerin, Kasan
Läisän Kalimullina, Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin
Rejska Lipičec, Jugend Europäischer Volksgruppen / Domowina; Studentin Uni Cottbus
Dr. Stephan Theilig, Direktor Brandenburg-Preußen-Museum Wustrau, Historiker, ICATAT-Vizedirektor
Alsu Baryschnikowa, Konzertmeisterin, Kasan
Venera Gerasimov-Vagizova, Vorstand Tatarlar Deutschland e.V.
Rosa Habibullina, Kulturreferentin der Musa-Dschalil-Schule Moskau; Bevollmächtigte der tatarischen nationalen Kulturautonomie Moskau, Sängerin
Emilia Mustafina, Musa-Dschalil-Schule Moskau
Beteiligte / Referent*innen / Organisator*innen der Workshops & Soirée aus Magdeburg:
Kurator: Dr. Mieste Hotopp-Riecke, Direktor ICATAT / Referent für Interkulturgeschichte .lkj) Sachsen-Anhalt e.V. Igor Sinitsyn, Harmonia e.V., Bajanspieler, Wolmirstedt
Dzhuliya Gerassimov, Studentin OvGU Magdeburg, ARGAMAK, Verein der tatarischen Jugend Deutschland
Leila Saitowa, Meridian e.V. Magdeburg
Andreas Bales und Nicolas Stange, „Die Wählerischen“ Hochschule Magdeburg-Stendal
Günay Aghayeva, Deutsch-Aserbaidschanischer Kulturverein Sachsen-Anhalt e.V.
Ender Yemeniçioğlu & Anne Lequy, ICATAT
Roman Alieiev, Initiative „Qırımlı“, Stendal/Berlin
In der Jugendgeschichtswerkstatt „Europäische Held*innen: Musa, Mina, Ahmet und wir?“ beleuchteten wir tatarisch-deutsch-sorbische Helden, Heimat & Identität in Geschichte & Gegenwart im gemeinsamen Europa.
Aus Anlaß des 110. Geburtstages des wolgatatarischen Nationaldichters Musa Dschalil, des 45. Todestages des krimtatarischen Piloten Ahmet Khan Sultan sowie des 40. Todestages der sorbischen Dichterin Mina Witkojc trafen sich 2016 in Magdeburg Jugendliche, Journalist*innen, Künstler*innen und Akademiker*innen aus Russland, der Ukraine, Polen, Aserbaidschan, Armenien, der Türkei und Deutschland um unterschiedliche Bereiche wolga- und krimtatarischer, sorbischer und deutscher Kunst, Geschichte und Gegenwart zu diskutieren, zu reflektieren und zu feiern. In unserer Jugendgeschichtswerkstatt „Europäische Held*innen“ ging es also um drei Biografien: Die des Wolgatataren Musa Dshalil, der Sorbin Mina Witkoij und die des Krimtataren Amet Khan Sultan. Kurzbiografien der drei Persönlichkeiten wurden erarbeitet sowie ihre extremen Lebensbedingungen im Kontext von Gulag-System, Deportation, II. Weltkrieg, Vertreibung, Berufsverboten und politischer Repressionen komparativ diskutiert und etwaige Analogien und Unterschiede zu heutigen Entwicklungen im Kontext der Wolgatataren, Sorben und Krimtataren in ihren Mehrheitsgesellschaften betrachtet.
Alle drei Lebensläufe und ihre Rezeption bzw. Instrumentalisierung, ihre Erforschung, das Œuvre der Künstler*innen und ihre politische Bedeutung heute wurden durch 50 junge Menschen aus Deutschland, Tatarstan, der Russländischen Föderation, Aserbaidschan, Syrien und der Ukraine gemeinsam entdeckt, diskutiert, verglichen und dokumentiert. Ein herzliches Dankeschön dafür an die Jugend der Tataren in Deutschland ARGAMAK und des aserbaidschanischen Kulturvereins Sachsen-Anhalt e.V. sowie die syrischen geflüchteten Jugendlichen aus dem Umfeld des „Vereins der Freunde Palästinas Sachsen-Anhalt e.V.“
In den Workshopeinheiten wurde anhand der historischen Ereignisse um die Persönlichkeiten Musa Dschalil, Mina Witkojc und Amet Khan Sultan auch die aktuelle Situation in unseren Ländern diskutiert. Dabei kamen unterschiedliche Sichtweisen auf den Ukrainekrieg Rußlands, die Krim-Annexion und die Instrumentalisierung bzw. Militarisierung von Geschichtspolitik zur Sprache und es offenbarten sich generationsbezogene Unterschiede bei der Rezeption und Bewertung der historischen Ereignisse: Während ukrainische, aserbaidschanische und tatarische junge Menschen, die Zugang zu fremdsprachiger Literatur und freien Medien in Wissenschaft und Kulturbereichen haben, sehr kritisch der Vereinnahmung und Ikonisierung von Musa Dschalil und Amet Khan Sultan unter Vorzeichen des neuen „sowjetischen Patriotismus“ und der nationalistischen russischen Militarisierung der Russländischen Gesellschaft gegenüber standen, wurde deutlich argumentiert, dass durch diese innerrussische und/oder tatarstanische Gedenkkultpolitik Schwächen in der derzeitigen russländischen Innenpolitik und im gesellschaftlichen Diskurs kaschiert werden soll. Mit der massiven Heroisierung von Dschalil derzeit in der tatarstanischen Gesellschaft erfüllt Dschalil wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg den Zweck, die Tataren in einem Klima von russischem Chauvinismus nicht als „den muslimischen Anderen“ sondern als den „Unsrigen“ ergo guten russländischen Bürger anzusehen. Die Klammer des „sojwetischen Patrioten“ wird dafür gerne instrumentalisiert und habe mit progressiver emanzipatorischer linker oder libertärer Politik nichts zu tun, so das Fazit der meisten Diskutant*innen. Die Tochter von Musa Dschalil, Tschulpan Salilowa, mahnte auch immer wieder vorsichtig an, ihren Sohn als dichtenden Menschen zu sehen mit vielen Facetten und nicht allein und ausschließlich als patriotischen Dichter-Helden. Sie bedankte sich für die offene und herzliche Atmosphäre bei Workshop und Soirée. Für den Besuch von Tschulpan Musajewna waren alle Teilnehmer*innen sehr dankbar.
Informationen hier als Flyer im PDF-Format zum download. Programm der Dschalil-Soirée als pdf-download hier eine Programmübersicht Gesamtseminar hier und das Infoblatt zum Workshop „Europäische Held_innen“ hier.
Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen-Anhalt sowie Aktion Mensch, dem Schirmherr der Veranstaltung Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Herrn Stephan Dorgerloh und Engagement Global für die Förderung und Unterstützung. Ein Rückblick in russischsprachigen Medien findet sich hier zum download.
Internationale Dschalil-Feierlichkeiten in Tatarstan: Konferenzen & Gedenken
Deutsch-Tatarische Schulpartnerschaft beschlossen / Musa-Dschalil-Medaille des Weltkongresses der Tataren an Venera Gerasimov-Vagizova, Dr. Hotopp-Riecke und Dr. Theilig
Die Workshops und die Soirée in Magdeburg waren der Abschluß von diversen Veranstaltungen zum Musa-Dschalil-Jubiläum, an denen das ICATAT auch international beteiligt war, so in Kasan (Tatarstan) und Berlin.
In Tatarstan gab es Lesungen, Filmvorführungen, eine internationale Konferenz an der Föderalen Staatsuniversität Kasan (KFU), Arbeitstreffen an der Akademie der Wissenschaften, Gedenkveranstaltungen im Nationalmuseum Tatarstans und am Dschalil-Memorial vor dem Kasaner Kreml. Zusammen mit der Tochter Musa Dschalils, Tschulpan Salilowa, war Mieste Hotopp-Riecke als Gast, Redner und Zuhörer an all diesen Veranstaltungen beteiligt, begleitet von einem breiten Medienecho. Eine Rückschau als russischsprachiges Medienreview findet sich hier als pdf.
Nach den diversen Veranstaltungen in Tatarstan mit hunderten Teilnehmer*innen präsentierten Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Nachkommen des Dichters eine Kultur- und Gedenk-Gala in Berlin im Haus der russischen Wissenschaft und Kultur. Federführend hier waren Venera Gerassimov-Vagizova vom Vorstand „Tatarlar Deutschland e.V.“ sowie ihre Tochter Dzhuliya vom Verein der tatarischen Jugend Deutschlands „ARGAMAK“. Dzhuliya wohnt in Magdeburg und war auch hier emsig mit tatarischen, syrischen und aserbanischen Jugendlichen an der Durchführung der Veranstaltungen beteiligt.
Im Haus der Russischen der Wissenschaft und Kultur in Berlin wurde zwischen der Evangelischen Schule Neuruppin und der Musa-Dschalil-Schule Moskau eine Schulpartnerschaft beschlossen. Die Initiative dazu kam von Rosa Habibullina, Kulturreferentin der Dschalil-Schule in Moskau und Hotopp-Riecke (ICATAT). Fachlich begleitet wird die inhaltliche Arbeit vom ICATAT und dem Brandenburg-Preußen-Museum in Wustrau, wo während des II. Weltkrieges Musa Dschalil interniert war. Zu dieser Thematik fand im Januar 2016 bereits ein einwöchiger Schülerworkshop im Museum statt.
Das ICATAT bekam sowohl vom Vertreter des Weltkongresses der Tataren, der Akademie der Wissenschaften Tatarstans und des Musa-Dschalil-Museums diverse Buchpräsente für die TATARICA-sammlung der Instituts-Bibliothek überreicht.
Anläßlich des 110. Geburtstages von Musa Dschalil wurde von der Republik Tatarstan eine Gedenkmedaille „In Erinnerung an den 110. Jahrestag der Geburt von Musa Jalil.“ herausgegeben. Die Vorderseite der Münze zeigt M. Dschalil in Gestalt des politischen Instrukteurs der Roten Armee, auf der Rückseite die Worte des Dichters: „Leben so, dass nach dem Tode Unsterblichkeit bleibt.“ Das Zertifikat für die Medaille wurde vom stellvertretenden Premierminister der Republik Tatarstan und bevollmächtigtem Vertreter der Republik Tatarstan bei der Russländischen Föderation, R.K.Ahmetshinym, unterzeichnet. Medaillen werden an Personen vergeben, die zur Erhaltung des Vermächtnisses von Dschalil beigetragen haben und die sich um weitere Erforschung, Verbreitung und das Studium seines Werkes, seines Lebens und seiner Zeit einsetzen.
Drei Medaillen wurden nach Deutschland gesandt und von den Vertretern des Weltkongresses der Tataren, Danis Schakirwo, und Rosa Habibullina, Bevollmächtigte der Moskauer tatarischen Kulturautonomie, in Berlin und Magdeburg verliehen. Preisträger in Deutschland sind Dr. Stephan Theilig, Venera Gerasimov-Vagizova und Dr. Mieste Hotopp-Riecke, die sich seit einem dutzend Jahren um Musa-Dschalil-Forschung verdient machen.